Pressetext
Warum Kunst?
– Kooperationsausstellung Museum Ulm und kunsthalle weishaupt vom 05. Mai bis 07. Oktober 2018 –
Eine der spektakulärsten Entdeckungen der Archäologie, die größte Skulptur der Eiszeit-Kunst, das älteste Abbild eines Fabelwesens, das ist die im Museum Ulm präsentierte 40.000 Jahre alte Löwenmensch-Skulptur aus der Stadel-Höhle im Lonetal bei Ulm, die mit insgesamt sechs Höhlen auf der Schwäbischen Alb als eine der wichtigsten Fundstätten menschlichen Kunstschaffens 2017 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Die Ernennung zum Weltkulturerbe und das von der Europäischen Kommission ausgerufene Kulturerbejahr 2018 bietet den Anlass zu einer Ausstellung, die der menschheitsgeschichtlichen Frage nachspürt, worin das Bedürfnis nach künstlerischer Gestaltung begründet liegt und was Kunst für unterschiedliche Kulturnationen bis heute bedeutet. Dabei existierte Kunst auf allen Stufen der menschlichen Evolution. Sie ist Medium zur Bewusstseinserweiterung und dient dem Erkenntnisgewinn. Kunst öffnet Vorstellungswelten und Glaubensvorstellungen, sie dient der Weltaneignung und Interpretation von Wirklichkeit, sie befragt sich selbst und ihre eigenen Mittel, verleiht dem Ich einen besonderen Ausdruck und macht Sinnes- und Wahrnehmungsphänomene erfahrbar.
Die Ausstellung in der kunsthalle weishaupt und dem Museum Ulm beleuchtet die Frage nach dem Warum, nach den inneren und äußeren Antriebskräften künstlerischen Gestaltens. Sie sucht Antworten auf die Frage, was der Mensch aus dem freiheitlichen Akt des Kunstschaffens für sein Dasein dazugewinnt. Jenseits stilgeschichtlicher Kategorisierungen spürt sie Wesen, Zweck und Funktionen von Kunst nach. Sie zeigt exemplarische Positionen aus Kunstgeschichte und Gegenwart. Und sie untersucht jenseits eines eurozentristischen Blicks die kulturinternen Kategorien außereuropäischer Kunsttraditionen.
In Ergänzung eines mehrjährigen Forschungsprozesses zur Historie der Migration in Ulm nach 1945 bezieht die Ausstellung in der kunsthalle weishaupt zudem in einem partizipatorischen Projekt des Künstlers Konstantin Felker (*1980) internationale Bevölkerungskreise ein. Als Orte der Begegnung und des kulturellen Austausches soll in der kunsthalle weishaupt und im Museum Ulm darüber hinaus mit der Ausstellung nicht nur die Frage thematisiert werden, welche Rolle die Kunst als Moment der gesellschaftlichen und historischen Identifikation in einer Welt zunehmender Ungewissheiten übernimmt und übernehmen kann, sondern auch ein Diskurs über die Zukunft des Museums angeregt werden.
Vorstellungswelten und Glaubeninhalte
Was den Menschen bewegt, Kunst zu schaffen, bleibt eine anregende, vermutlich nie vollständig zu beantwortende Frage. Über die Absichten des frühen Homo sapiens, Zeichnungen von Tieren an felsigen Wänden in tiefen Höhlen zu hinterlassen, können wir nur spekulieren. Dennoch zeugen schon die urgeschichtlichen, bis zu 40.000 Jahre alten Kunstwerke von der genuinen Fähigkeit und dem fundamentalen Bedürfnis des Menschen zur Bildproduktion und dem Erschaffen ästhetischer Erzeugnisse.
Mit dem Erscheinen von figürlicher Kunst und Musik wurde der Mensch modern. Als Ich-bewusstes und vorstellungsbegabtes Wesen hatte er begonnen sich ein Bild von der Welt zu machen, sich auszudrücken, zu gestalten und den sozialen Zusammenhalt über Glaubenssysteme zu stärken. Kunst als Mittel zum Ausdruck von religiösen oder symbolischen Inhalten, als Form der Komm-unikation und als Möglichkeit, Informationen zu bewahren, war so erfolgreich, dass sie auf allen Kontinenten und Kulturen in zahllosen Ausprägungen anzutreffen ist.
Tatsächlich liegt die Macht der Kunst in ihrer Wirkung als Sinnbild. Immer weist ein Kunstwerk über sich selbst hinaus. Es enthüllt das Subjektive in der Wahrnehmung und im Verhältnis zur Welt, Gefühle, Erinnerungen, Widersprüche und Fantasien. Jedes künstlerische Werk stimuliert den gedanklichen Austausch, denn es ist eine der Hauptaufgaben von Kunst, ihre Betrachter mit etwas vertraut zu machen, was sie bisher nicht kannten. Kunst ist unübersetzbar und daher notwendig.
Der weitaus größte Teil der weltweit überlieferten Kunst ist religiös bestimmt. Die Werke der ersten Ausstellungsetage in der kunsthalle weishaupt geben einen Einblick in die unterschiedlichsten Ausdrucksformen, mit denen Künstlerinnen und Künstler seit Jahrtausenden Vorstellungswelten öffnen und Glaubensinhalte sichtbar machen: vom eiszeitlichen Fantasiewesen und den zeremoniell zur Geister- und Ahnenbeschwörung, zum Totengedenken, für Initiations- und Zauberrituale genutzten Figuren und Masken Schwarzafrikas, Ozeaniens, Nord- und Südamerikas über Heiligen-bilder und Allegorien des christlichen Abendlandes, von bildlichen Darstellungen griechisch-röm-ischer Mythen und Ursprungssagen der australischen Ureinwohner bis hin zu indischen Helden-legenden, apokalyptischen Fantasien, surrealen Schöpfungen, geheimnisvollen Auferstehungs-visionen und zeitgenössisch interpretierten Porträts schiitischer Märtyrer.
Aneignung der sichtbaren Wirklichkeit und Aus-einandersetzung mit zivilisatorischen Phänomenen
Jede Kunst ist zuallererst ästhetischer Natur: Sie transportiert ihre Mitteilungen über die Sinne. Alle anderen zweckorientierten Funktionen eines Kunstwerkes werden ihm von außen zugewiesen – die ästhetische ist ihm eigen. Sie wandelt sich mit dem Zeitgeschmack und den Normen einer Gesellschaft. Gleichzeitig blieben Kunstwerke Träger vielfacher Funktionen, die sich im Lauf der Geschichte änderten und zugleich die Ausdrucks- und Wirkformen der Kunst reformierten.
Über Jahrhunderte ließ sich mit den Mitteln der Kunst das Wissen der Zeit – was man sah und wusste, vor allem aber wie man es sah – festhalten. Obwohl es seit der Entwicklung von Fotografie und Film überzeugendere Mittel zur Abbildung von Welt gibt, bleibt doch die nahe liegendste Funktion von Kunst die Aneignung einer sichtbaren Wirklichkeit, die im Gestaltungsprozess individuell verarbeitet und gedeutet wird. So kann auch die abbildhafte Kunst als Mittel der Kommunikation versteckte Botschaften transportieren und inhaltliche Zwecke erfüllen.
Während vormoderne Kunst oft eine Auftragskunst war, die der Repräsentation, der Darstellung von Macht und Status oder von religiösen Lehren diente, veränderten sich mit der Wende zum 19. Jahrhundert die Ansprüche an ein Kunstwerk. Der Künstler emanzipierte sich zunehmend vom Auftraggeber und entschied freier über seine Themen. Seit der Moderne übernehmen Künstlerinnen und Künstler mehr und mehr die Aufgabe, den Betrachter herauszufordern, mit Erfahrungen und Erkenntnissen zu bereichern, hitzige Debatten auszulösen, unbequeme Fragen zu stellen, aber auch Meinungen zu modellieren.
Im Obergeschoss der kunsthalle weishaupt werden ausgewählte Beispiele unterschiedlicher Epochen und Kulturen, in denen sich die künstlerische Aneignung der sichtbaren Wirklichkeit und die Auseinandersetzung mit zivilisatorischen Phänomenen äußert präsentiert. Historische Darstellungen von Natur und Gegenstandswelt als Symbole irdischer Vergänglichkeit, impressionistische Landschafts- und Abbildauffassungen, virtuelle Vegetationsformen sowie repräsentative, naturalistische und stilisierte Porträtstudien aus japanischer Tradition, europäischer Geschichte und Gegenwart stehen neben Bildern, Objekten und Videos, deren Inhalte Phänomene unserer Konsum- und Prestigegesellschaft, globale Fragen der ökonomischen, sozialen und politischen Gerechtigkeit, Themen der Gewalt und Ausbeutung, kriegerischen Auseinandersetzung und ökologischen Zerstörung ansprechen, um gleichzeitig Vorschläge für eine Veränderung der Gesellschaft bereit zu halten.
Sinnliche Wahrnehmungsphänomene und Befragung der eigenen Identität
Zur Ausstellung wird eine umfangreich bebilderte Publikation mit Aufsätzen von Prof. Dr. Karin Dannecker, Dr. Stefanie Dathe, Prof. Dr. Tilman Allert und Dr. Wolfgang Ullrich erscheinen.
Abb.: Ausstellungsansichten_Warum Kunst?_kunsthalle weishaupt & Museum Ulm_Fotos Henry M. Linder
Weitere Informationen zur Ausstellung auch unter www.museumulm.de und www.kunsthalle-weishaupt.de.
Museum Ulm
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89073 Ulm
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